Reshoring: Wer profitiert von kurzen Ketten?
10.05.2023 | Die Krisen der vergangenen Jahre haben gezeigt: Lange Lieferketten können ein Sicherheitsrisiko sein – für Staaten und Unternehmen. Heimatnahe Produktion ist ein Lösungsansatz. Der Weg dahin führt über erhebliche staatliche Subventionsprogramme. Welche Sektoren könnten von dieser Entwicklung profitieren?
Das Wichtigste für Sie in Kürze
- Zur Minimierung von Risiken ist die Restrukturierung strategisch wichtiger Lieferketten unumgänglich
- Staaten setzen erhebliche Anreize und Unternehmen investieren
- Profitieren könnten vor allem Industrieunternehmen, aber auch Baustoff- und Stahlhersteller
Unternehmen und Staaten reduzieren Risiken
Es war ein Paukenschlag: Im März 2022 gab der US-Chip-Gigant Intel bekannt, bis zu 17 Milliarden Euro in Magdeburg investieren zu wollen. Künftig sollen in Deutschland Halbleiter der neuesten Generation produziert werden. In den USA will das Unternehmen sogar mehr als 40 Milliarden US-Dollar für den Bau neuer Kapazitäten in die Hand nehmen. Ähnlich viel investiert der weltgrößte Auftragsfertiger TSMC aus Taiwan in einen Produktionskomplex in Arizona. Doch der Grund für all diese Projekte sind nicht etwa auf Anhieb geringere Kosten. Diese liegen laut TSMC-Gründer Morris Chang pro produzierter Einheit in den USA mindestens 50 Prozent über denen in Taiwan. Ausschlaggebend dürfte vielmehr ein anderer globaler Trend sein: die Restrukturierung wichtiger Lieferketten.
Die internationale Arbeitsteilung, das Erfolgskonzept der vergangenen Jahrzehnte, steht auf dem Prüfstand. Die Lieferengpässe während der Pandemie, die Sorge um die Energiesicherheit nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und die durch all dies beschleunigte Blockbildung in der Welt haben bestimmte Abhängigkeiten endgültig als Risiko entlarvt. Für Staaten, weil ihre Sicherheit auf dem Spiel steht und für Unternehmen, weil im schlimmsten Fall der Weiterbetrieb gefährdet ist. Beide haben deshalb ein veritables Interesse daran, Lieferketten widerstandsfähiger zu machen. Was häufig heißt: sie zu verkürzen und Produktion wieder verstärkt im eigenen Land anzusiedeln – das sogenannte Reshoring. Das schafft nicht nur Versorgungssicherheit, sondern entzieht auch dem strategischen Rivalen Know-how und mögliche Fertigungskapazitäten.
40 Mrd. US-Dollar
will der weltgrößte Auftragsfertiger TSMC in seine Chip-Fertigung in den USA investieren
Die Rückverlagerung von Produktion in die Heimatländer und in deren geographische oder politische Nähe (Near- und Friendshoring) ist zwar teuer. Langfristig dürften aber die Vorteile überwiegen. Zusätzliche kurzfristige Anreize für die Rückverlagerung, aber auch für heimatnahe Neuinvestitionen in Zukunftstechnologien kommen von den Staaten, die große Subventionspakete geschnürt haben. Welche Sektoren könnten die Gewinner dieser Gesamtentwicklung sein? Wie könnten Investoren profitieren?
Enorme Anreize zeigen Wirkung
Es sind zwei Prozesse im Gange, die in eine ähnliche Richtung wirken, sich teilweise überschneiden und verstärken: Zum einen die Notwendigkeit vieler Staaten, sich im Großmachtwettbewerb unabhängiger vom jeweiligen Rivalen zu machen – insbesondere bei strategisch wichtigen Gütern, die sowohl den künftigen Wohlstand als auch militärische Überlegenheit sichern. Zum anderen der Druck vieler Unternehmen, auf die immens kostspieligen Lieferkettenprobleme zu reagieren. Das Dilemma der Staaten ist dabei der Vorteil vieler Konzerne: Zumindest in manchen Bereichen profitieren sie von den Milliarden-Subventionen, die die Staaten für das klassische Reshoring, aber auch die grüne Transformation und die Forschung und Entwicklung von Zukunftstechnologien bereitstellen. Denn es gibt nicht nur Geld für die Rückverlagerung, sondern auch den heimatnahen Neuaufbau und die Erweiterung von Kapazitäten.
Klassische Industriepolitik ist wieder en vogue. Anders als in den vergangenen Jahrzehnten werden heute vor allem physische Investitionen benötigt. Investierten Unternehmen in den vergangenen Jahren vor allem in immaterielle und damit stark skalierbare Wirtschaftsgüter wie Software, geht es jetzt wieder um Maschinen, Gebäude und Technik, etwa Automatisierungs- und Digitalisierungsverfahren. Damit erlebt auch die „Old Economy“ ein Comeback – und mit ihr Europa. Denn die langjährige Schwäche – die Dominanz des Industriesektors – wird jetzt zur Stärke. Das bedeutet zwar nicht, dass der Wirtschaftsstandort Europa plötzlich in den absoluten Fokus der Investoren rückt. Zu stark wiegen (noch) die Standortnachteile (Stichwort: Energiepreise). Dennoch werden auch europäische Unternehmen von der neuen Entwicklung profitieren – durch bessere Chancen auf dem „alten Kontinent“, aber insbesondere auch in den USA1.
Industriepolitik als Job-Motor
Durch Reshoring und ausländische Direktinvestitionen entstandene Jobs im Verarbeitenden Gewerbe der USA

Zumindest in den Vereinigten Staaten scheint es bereits erste messbare Erfolge der erheblichen Anreize sowie des Strebens der Unternehmen nach Risikominimierung zu geben: Mehr als 350.000 neue Arbeitsplätze sollen im vergangenen Jahr durch Reshoring und ausländische Direktinvestitionen im Verarbeitenden Gewerbe geschaffen worden sein, so die Lobbyorganisation Reshoring Initiative. Fast 70 Prozent davon entstanden in jenen Bereichen, die im Mittelpunkt der grünen Transformation der Wirtschaft und der Restrukturierung wichtiger Lieferketten stehen: elektrische Geräte und Komponenten sowie Computer und elektronische Produkte. Konkret: Batterien für Elektroautos, Ladeinfrastruktur, Industrieroboter, Solartechnik und Computerchips.
Welche Branchen und Geschäftsmodelle profitieren?
Die Halbleiterbranche ist damit eine Schlüsselindustrie. Ohne Chips der neuesten Generation gibt es keine Zukunftstrends wie autonomes Fahren und Künstliche Intelligenz – Technologien, die aufgrund ihrer zivilen und militärischen Einsatzmöglichkeiten von strategischer Bedeutung sind. Doch während die klassischen Chip-Produzenten zunächst einmal höhere Kosten haben (siehe oben), profitieren ihre Zulieferer unmittelbar. Die beiden niederländischen Unternehmen ASML und ASM International etwa entwickeln und bauen Maschinen, die für die Chip-Herstellung unerlässlich sind. Werden neue Fertigungskapazitäten aufgebaut, könnte sich das auch in den Auftragsbüchern der Maschinen-Produzenten bemerkbar machen.
Ein weiteres zentrales Thema beim Reshoring ist die Automatisierung von Industrieprozessen. Ein wesentliches Argument für die Verlagerung der Produktion ins Ausland waren in der Vergangenheit die geringeren Personalkosten. Soll die Fertigung nun wieder im Inland stattfinden, würde dies – bei gleichbleibenden Prozessen – die Kosten deutlich erhöhen. Denn neben dem grundsätzlich höheren Lohnniveau treibt auch der enge Arbeitsmarkt (Stichwort: Fachkräftemangel) die Personalkosten. Das Verarbeitende Gewerbe reagiert darauf mit einer Automatisierung und Digitalisierung der Produktion.
Bei dieser Transformation sind Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen gefragt. Das deutsche Industrie-Schwergewicht Siemens etwa setzt schon länger auch auf Produkte und Dienstleistungen aus den Bereichen „Industrie 4.0“ und „Digitale Fabrik“. Auch die Schweizer ABB hat Prozessautomatisierung und Robotik im Portfolio und könnte damit ebenfalls gut gerüstet sein für eine weitere digitale Durchdringung der Produktion.

Klassischer Maschinenbau und andere Zuliefererindustrie dürften ebenfalls profitieren. Denn, wie bereits bei den Halbleiter-Herstellern gezeigt, sorgen neue Fertigungslinien auch für ein Anziehen der Nachfrage bei Vorprodukten und Bauteilen. Die Eaton Corporation etwa entwickelt und vertreibt Komponenten und Systeme für hydraulische und elektrische Systeme unter anderem im Fahrzeug- und Flugzeugbau. Auch Ladestationen für E-Autos gehören zum Portfolio des irischen Konzerns. In einem ähnlichen Bereich ist Rockwell Automation mit Sitz in Milwaukee, Wisconsin, tätig. Auch die US-Firma Ametek stellt elektronische Instrumente für Kunden aus unterschiedlichen Branchen her. Im Bereich Stromtechnik, auch für die Elektromobilität, ist zudem Schneider Electric aktiv. Fertigungs- und Automatisierungstechnik bietet zudem die US-amerikanische Emerson Electric an.
Ebenfalls gut positioniert könnten Konzerne sein, die industrienahe IT-Services und entsprechende Infrastruktur im Portfolio haben. Die deutsche SAP stattet Unternehmen mit Software aus und bietet Beratungsdienstleistungen an. Auch Dassault Systemes hat vor allem Software im Repertoire. Der französische Konzern bietet Anwendungen, etwa in Form von 3D-Modellierung, um Innovations- und Digitalisierungsprozesse der Kunden zu unterstützen.
An einer Schnittstelle zwischen Infrastruktur und IT ist die US-amerikanische Amphenol Corporation tätig, die unter anderem elektronische Verbindungssysteme sowie Kabel liefert. Shoals Technologies aus den USA besetzt ebenfalls verschiedene Positionen in der Wertschöpfungskette. Da Solarstrom im Zuge der grünen Transformation eine immer höhere Bedeutung zukommt, wird auch die Steuerung und Verkabelung großer Solarparks immer wichtiger. Schoals liefert hier Komplettlösungen und ist auch bei Ladestationen für Elektrofahrzeuge aktiv.
Auch die Baubranche wird in dem anstehenden Wandel gefordert sein. Neben Anbietern von Maschinen und der (Netz-)Infrastruktur könnten etwa klassische Baustoffhersteller wie die irische CRH eine Rolle spielen. Bei Herstellern und Vermietern von Baumaschinen könnte die Nachfrage ebenfalls steigen. Die US-Firmen Caterpillar und United Rentals sind in den entsprechenden Feldern tätig.
Im Fokus steht auch die Stahlbranche. Einerseits liefert sie das Baumaterial für Fabriken, andererseits ist der Druck zur Transformation hoch. Rund sieben Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland entfielen 2020 auf die energieintensive Stahlproduktion. Eine mögliche Lösung: „grüner Stahl“. Statt fossilen Brennstoffen soll für die Produktionsprozesse künftig Wasserstoff zum Einsatz kommen, der mithilfe erneuerbarer Energien hergestellt wurde. Da Wasserstoff auch in anderen Industrien eingesetzt werden kann, ist er eine Schlüsseltechnologie in den Förderprogrammen der USA und der EU. Noch sind die Kapazitäten begrenzt, doch Unternehmen wie die österreichische Voestalpine und ArcelorMittal mit Sitz in Luxemburg investieren bereits in diese und andere Verfahren, um die Stahlproduktion klimafreundlicher zu machen.
Fazit
Die Restrukturierung von Lieferketten und die Rückkehr der Industriepolitik haben eine große Schnittmenge. Die Verwerfungen während der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine haben gezeigt, dass die Globalisierung zu erheblichen Abhängigkeiten geführt hat. Im Krisenfall können diese existenzbedrohend werden. Eine Verkürzung der Lieferketten wird deshalb zur Frage der nationalen Sicherheit, wirtschaftliche Interessen treten in den Hintergrund. Gerade deshalb sind aber auch die Staaten gefordert, entsprechende Anreize zu setzen, damit Unternehmen das oftmals teure Reshoring in Angriff nehmen. Die angesprochenen Fiskalprogramme machen genau dies und sorgen zusätzlich für eine Beschleunigung der grünen Transformation sowie der Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft.
Von dieser Entwicklung dürften ausgewählte Branchen profitieren. Im Vordergrund steht der Industrie-Sektor – und damit auch Europas „Old Economy“. Produzenten von technischen Produkten, elektronischen Instrumenten, Baumaschinen, aber auch Automatisierungstechnologien stehen im Fokus. Daneben könnten auch Baustoff- sowie Stahlhersteller gefragt sein. Aber auch im IT-Bereich könnten sich Profiteure finden, vor allem Zulieferer von Halbleiterunternehmen sowie Anbieter von Softwarelösungen für die Automatisierung und Infrastruktur. Klar ist: Die neue Industriepolitik wird die Unternehmenslandschaft verändern – und anpassungsfähige Konzerne mit gefragten Geschäftsmodellen könnten zu den Gewinnern zählen, auch an der Börse.
Ein Beitrag von Moritz Bauer, Anna Velikova und Janis Blaum.
Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen: 10. Mai 2023, soweit nicht anders angegeben.
Hinweis: Die Nennung von Einzeltiteln und Unternehmen dient ausschließlich der Illustration und stellt keine Kauf- oder Verkaufsempfehlung der Titel dar. Die genannten Unternehmen müssen nicht Bestandteil der Portfolios von Union Investment sein. Einschätzungen können sich ändern, und das Unternehmen kann auf Veränderungen bereits reagiert haben.
- 1 Chancen dürften sich für Investoren auch in ausgewählten Emerging Markets ergeben. Mexiko könnte ebenso von Near- und Friendshoring profitieren wie etwa Vietnam, das als China-Alternative in Asien in Frage kommt. Aufgrund der besseren Investierbarkeit (Liquidität und Kosten) konzentrieren wir uns in diesem Text allerdings auf die Industrieländer.
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