Geldpolitik: Weniger wirkungsvoll als früher
14.09.2023 | Die Geldpolitik wirkt heute schwächer und langsamer als früher. Was gut sein kann für Haushalte und Unternehmen, ist für die Notenbanker ein echtes Problem. Wie sollte die EZB reagieren? Und was bedeutet das für Anleihe-Investoren und die Renditeentwicklung?
Das Wichtigste für Sie in Kürze
- Viele Faktoren sprechen für eine schwächere und langsamere Wirkung der Geldpolitik auf die Volkswirtschaft
- Um unnötige Volatilität zu vermeiden, muss die EZB (noch) vorausschauender und entschlossener agieren
- Weil sich kurzfristige Renditen volatiler als langfristige entwickeln, werden Zinsstrukturkurven steiler und inverser
Geldpolitik auf dem Prüfstand
Die Bewegung ist beispiellos. Noch nie in ihrer knapp 25jährigen Geschichte hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Zinsen so schnell und stark angehoben wie im aktuellen Erhöhungszyklus. Seit Juli 2022 stieg der Einlagensatz von -0,5 auf 4 Prozent. Nachdem die Währungshüter zuvor über sechs Jahre den Leitzins unangetastet gelassen hatten, waren die Fragezeichen unter Beobachtern dieses Mal besonders groß: Was bedeuten die drastischen Anstiege für die Kreditvergabe an Unternehmen, aber auch an Konsumenten? Wie würden die Renditen von Staats- und Unternehmensanleihen auf die massiven, aber für die Inflationsbekämpfung dringend nötigen Erhöhungen der kurzfristigen Zinsen reagieren? Anders formuliert: Wie zinssensitiv sind Wirtschaft und Kapitalmarkt im Euroraum?
Bereits im März 2022 hatten wir ähnliche Fragen für die US-Wirtschaft gestellt.1 Die US-Notenbank Federal Reserve hatte einige Monate vor der EZB begonnen, die Leitzinsen zu erhöhen. Unsere Antwort damals: Die Unternehmen und Konsumenten in den Vereinigten Staaten waren vor dem aktuellen Zinserhöhungszyklus robuster aufgestellt als in der Vergangenheit. Damit war ein schneller, starker Rückgang der Wirtschaftsleistung unwahrscheinlich.
Doch galt und gilt das auch für den Euroraum? Im vorliegenden Beitrag ziehen wir eine Bilanz des geldpolitischen Zyklus. Darauf aufbauend erklären wir, warum sich die Wirkungsweise der Geldpolitik im Vergleich zu früher verändert hat und was dies für unsere künftigen Erwartungen an die Notenbanken bedeutet. Im Zentrum stehen Unternehmen, Haushalte – und Investoren.
Gelpolitik wirkt schwächer…
In der EZB-Historie gab es vor dem aktuellen nur zwei wirkliche Zinserhöhungszyklen. Aber auch der Vergleich mit den nationalen Zyklen vor 1999 bestätigt hierzulande unsere Beobachtungen aus den USA: Der Zusammenhang zwischen Geldpolitik und der Volkswirtschaft ist loser geworden. Ob beim Blick auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Wohnungsbau- oder die Ausrüstungsinvestitionen: Eine straffere Geldpolitik im Allgemeinen beziehungsweise eine Erhöhung der Zinsen im Speziellen ist empirisch nicht (mehr) automatisch mit einem schnellen und deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung verknüpft. Das macht die Inflationsbekämpfung für die Notenbank zu einer noch größeren Herausforderung. So sieht selbst die EZB in ihren Modellrechnungen eine große Unsicherheit in Bezug auf zum einen die Stärke und zum anderen den Zeitpunkt der Wirkung ihrer Geldpolitik.
Um diese beiden Parameter zu untersuchen, haben wir verschiedene Kennziffern unter die Lupe genommen. Dabei zeigen sich vielschichtige, teilweise gegenläufige Effekte. Für eine geringere Wirkungsstärke der Geldpolitik spricht vor allem die bessere Finanzsituation von Haushalten und Unternehmen. So ist der Verschuldungsgrad (Schulden im Verhältnis zum verfügbaren Jahreseinkommen) der Haushalte im Euroraum seit der Finanzkrise 2007 weitgehend stabil. Gleichzeitig liegen die Nettovermögen im Verhältnis zum BIP aber deutlich über ihren früheren Niveaus. Gestiegene Zinsen beziehungsweise Schuldentilgungskosten dürften damit vergleichsweise gut zu stemmen sein.
Geänderte Rahmenbedingungen: Geldpolitik wirkt schwächer
und langsamer
Haushalte: Verschuldung stabil, Vermögen gestiegen

Die (Brutto-)Verschuldung von Unternehmen hat zwar in den vergangenen Jahren zugenommen. Allerdings stehen dieser auch eine hohe Liquidität sowie robuste Cashflows gegenüber. Ein weiterer Aspekt aus unserer US-Analyse hat sich beim Blick auf den Euroraum bestätigt: Die mittelfristigen Investitionen von Unternehmen richten sich im zeitlichen Vergleich weniger am aktuellen Zinsniveau aus, sondern vielmehr an der erwarteten Rendite eben jener Investitionsvorhaben. Da sich diese in den vergangenen Jahrzehnten – trotz zuvor deutlich geringerer Zinsen – kaum verändert hat und gleichzeitig das Wachstumsumfeld für den Euroraum im laufenden Jahrzehnt wachstumsfreundlicher sein dürfte als in den 2010er-Jahren, dürfte der Bremseffekt höherer Leitzinsen über diesen Kanal gedämpft sein.
Auch die Verteilung der Schulden insgesamt lässt auf eine deutlich robustere Wirtschaft schließen. Im Vergleich mit 2007 ist der Anteil des Privatsektors an der Gesamtverschuldung zurückgegangen. Ein größerer Teil der Schulden liegt heute bei den Staaten und der EZB selbst. Das Risiko für Verwerfungen ist hier geringer. Zudem gab es im Vorfeld der Zinserhöhungen keinen anhaltenden Kreditboom bei den Haushalten, der früher ein Krisen-Treiber war.
Für eine geringere Wirkungsstärke der Geldpolitik, insbesondere in der Zukunft, sprechen schließlich das von uns mittelfristig höher erwartete Nominalwachstum sowie eine aktivere Fiskalpolitik. Beide Faktoren sorgen etwa über höhere Löhne und staatliche Subventionen für eine geringere Anfälligkeit von Haushalten und Unternehmen für höhere Zinsniveaus. Zwar gibt es etwa mit der über alle Sektoren gestiegenen Verschuldung, dem Immobilienboom der vergangenen Jahre und der durch eine höhere Aktienquote gesteigerten Volatilität der Vermögen auch Faktoren, die eine stärkere Wirkung der Geldpolitik möglich erscheinen lassen. In Summe überwiegen für uns aber klar die Argumente dafür, dass die Wirkungsstärke geringer ist.
…und später
Auch bei der Geschwindigkeit, mit der sich eine geldpolitische Neuausrichtung in der Realwirtschaft niederschlägt, haben wir einen wesentlichen Unterschied zu früheren Zinserhöhungszyklen festgestellt: Wir beobachten eine spürbare Verzögerung. Ein Grund dafür ist der deutliche Rückgang von variabel verzinsten Krediten bei Haushalten und kurzfristiger Finanzierung von Unternehmen. So ist der Anteil an Unternehmenskrediten mit einer Laufzeit von unter einem Jahr in den vergangenen 15 Jahren von 25 Prozent auf unter 18 Prozent gesunken. Gleichzeitig machen Kredite mit einer Laufzeit von über fünf Jahren nun über 60 Prozent der Gesamtkredite aus. Mehr fixe Verzinsung und Kredite mit längerer Laufzeit bedeuten, dass ein Zinsanstieg langsamer durchschlägt.
Geänderte Rahmenbedingungen: Geldpolitik wirkt schwächer
und langsamer
Unternehmen: Trend zu längeren Laufzeiten

In eine ähnliche Richtung wirken das insgesamt breitere Finanzierungsangebot für Unternehmen, eine über mehrere Jahre gebildete Überschussliquidität sowie ein zwischenzeitlich sogar gesunkener Realzins.
EZB vor großen Herausforderungen
Damit ist klar: Die Geldpolitik wirkt im aktuellen und künftig von uns erwarteten Umfeld schwächer und langsamer als früher. Das kann zwar gut sein für Haushalte und Unternehmen. Sie werden weniger stark und direkt von Änderungen der Geldpolitik getroffen. Für die Notenbanker ist das aber ein erhebliches Problem. EZB-Chefin Christine Lagarde hatte bereits im Juni 2023 deutlicher als zuvor die hohe „Unsicherheit hinsichtlich der Inflationspersistenz und der Stärke der geldpolitischen Transmission“ angemahnt.2 Auch EZB-Direktoriumsmitglied Isabell Schnabel konstatierte kürzlich, dass man sich in diesem „steilsten Zinsanhebungszyklus in der Geschichte des Euroraums“ weniger auf frühere Erfahrungen verlassen könne.3
Doch was bedeutet das für die künftige Ausrichtung der Geldpolitik? Für den aktuellen Erhöhungszyklus hat die EZB unmissverständlich klargemacht: Die Leitzinsen müssen auf einem ausreichend restriktiven Niveau liegen und auf diesem so lange wie erforderlich bleiben. „Unterdessen müssen wir genau im Blick behalten, wie stark die geldpolitische Transmission ist, um eine Fehlkalibrierung der Geldpolitik in eine der beiden Richtungen zu vermeiden“, so Lagarde. Wir sehen mit dem Zinsschritt im September die erste Bedingung erfüllt und erwarten eine erste Zinssenkung nun im Juni 2024.
Doch abseits des aktuellen Zinszyklus haben unsere Erkenntnisse auch grundsätzliche Implikationen für die Geldpolitik als solche und die Erwartungen der Marktteilnehmer. Denn solange die Wirkungsstärke geringer und die Verzögerung größer ist, muss die Geldpolitik künftig noch stärker und vorausschauender agieren, um die Realwirtschaft nicht unnötiger Volatilität auszusetzen. Das heißt zum einen, dass der Abstand zwischen Leitzinshoch und -tief größer als früher ausfällt – die Schwankungsbreite nimmt also zu. Gleichzeitig sollte die Notenbank Zyklen früher beginnen beziehungsweise beenden, was einer zeitlichen Verschiebung zur Vergangenheit darstellt.

Das könnte schon kurz- bis mittelfristig Überraschungspotenzial bergen: Weil sich der Inflationsdruck vermutlich hartnäckiger halten wird als in den vergangenen Dekaden, gehen viele Marktteilnehmer intuitiv davon aus, dass – im Vergleich zu früher – der zeitliche Abstand zwischen letzter Zinserhöhung und erster Zinssenkung größer und das Ausmaß der Zinssenkungen geringer ausfällt. Darauf deuten auch viele Äußerungen aus der EZB hin. Doch weil Zinssenkungen wie Zinserhöhungen schwächer und später wirken, könnte die EZB gleichfalls gezwungen sein, die Zinsen früh und stark zu senken.
Fraglich ist nur, ob dies auch gelingt. Dass die EZB im Nachhinein zu spät reagiert hat und demzufolge sehr schnell und stark die Zinsen erhöhen musste, zeigt: Eine (noch) vorausschauendere Geldpolitik bleibt ein frommer Wunsch. Andererseits könnte diese Erfahrung die Lehre für die Zukunft sein. Es bleibt eine Gratwanderung. Denn Fakt ist: Auch wenn die Euroraum-Wirtschaft – aufgrund der beschriebenen Faktoren – ohne tiefe Rezession durch diesen beispiellosen Zinserhöhungszyklus kommen dürfte. Ein Zinsschritt zu viel, und die Notenbank würgt die Konjunktur unnötig stark ab – ein Zinsschritt zu wenig, und die Inflation weicht unnötig lange vom Ziel ab.
Zinsstrukturkurven werden steiler und inverser
Was bedeutet das für Anleihe-Investoren? Wie die Leitzinsen haben auch die Anleiherenditen einen starken Anstieg hinter sich. Bereits mit der Änderung der Notenbank-Kommunikation waren die Zinsen auf Staats- und Unternehmensanleihen deutlich gestiegen. Rentierte die zweijährige Bundesanleihe zum Jahresende 2021 noch bei -0,65 Prozent, stand sie Mitte Juni 2022 (also noch vor der ersten Leitzinserhöhung der EZB) bereits bei rund 1,2 Prozent. Inzwischen hat sich die Rendite bei rund 3,1 Prozent eingependelt. Die Kurse der Anleihen rauschten gleichzeitig in den Keller. Unternehmensanleihen folgten einem ähnlichen Muster: Die Rendite von europäischen Corporate Bonds mit Investment Grade-Rating stieg auf Index-Ebene (ICE BofA Euro Corporate Index) von 0,5 Prozent Anfang 2022 auf nun über vier Prozent an. Der Index verlor im gleichen Zeitraum hingegen mehr als elf Prozent.
Welchen nachhaltigen Effekt die von uns gewonnenen Erkenntnisse auf die Kurse von Anleihen haben werden, ist im aktuellen Stadium noch nicht zu quantifizieren. Die Renditen von Papieren mit zehnjähriger Laufzeit mögen wenig davon betroffen sein, zumal ihre Entwicklung auch noch stärker von anderen Faktoren wie etwa der Laufzeitprämie und anderen Risikoprämien abhängt, die in einem volatilen Zinsumfeld zunehmen könnten.4 Mit Blick auf den gesamten Zyklus sollte sich auch bei kurzlaufenden Papieren wenig ändern. Aber weil die Unterschiede zwischen Zinsgipfel und -tal kurzlaufender Papiere zunehmen dürften, könnte die Zinsstrukturkurve zum Ende eines Zinssenkungszyklus steiler und zum Ende eines Zinserhöhungszyklus stärker invers sein als in der Vergangenheit. Klarheit dürfte letztlich die Zeit – und die nächsten Zyklen – bringen.
- 1 Siehe unser anGEDACHT – Bremst die Zinswende die US-Wirtschaft aus? Konsument und Unternehmen im Fokus
- 2 Die Persistenz der Inflation durchbrechen – Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich des ECB Forum on Central Banking am 27. Juni 2023 in Sintra.
- 3 Disinflation and the Phillips curve – Rede von Isabel Schnabel, Direktoriumsmitglied der EZB, anlässlich einer Konferenz von EZB und der Cleveland Federal Reserve am 31. August 2023 in Frankfurt am Main.
- 4 Weiterführende Informationen zu den Einflussfaktoren auf die Renditeentwicklung finden sich in „Inversion der Zinskurve: Zwickmühle für die Geldpolitik“ aus dem August 2023.
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