​​Etwas höher hinaus​ 

​Die Fed könnte sich 2025 ein neues Inflationsziel geben

  • Höheres Inflationsziel würde Fed und EZB mehr Spielraum verschaffen, um Rezessionen zu bekämpfen
  • Richtiges Timing entscheidend, wenn Notenbanken ihre Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen wollen 
  • In den USA könnte es 2025 soweit sein, im Euroraum erwarten wir dies vorerst nicht 

Ein langfristiges Projekt der Fed

„Das ziehen wir nicht in Betracht“, sagte Fed-Präsident Jerome Powell bei einer Pressekonferenz im Dezember 2022. Gefragt worden war er, ob die amerikanische Zentralbank erwägen würde, ihr Inflationsziel von „durchschnittlich“ zwei Prozent anzuheben. Zu diesem Zeitpunkt lag die Teuerungsrate in den USA bei sechseinhalb Prozent. Powell bekräftigte, dass die Fed an ihrem Ziel festhalten und die Inflation wieder zurückführen werde. Danach fügte Powell allerdings noch hinzu: Es könne ein „langfristiges Projekt sein“, das Inflationsziel der Fed auf den Prüfstand zu stellen.1 

Notenbanker wählen ihre Worte in der Regel mit Bedacht, denn schon Sprachnuancen können Marktbewegungen auslösen. Insofern könnte der Nachsatz von Powell durchaus ein Fingerzeig sein in der Debatte um das Inflationsziel der Fed, die schon seit einigen Jahren geführt wird. Der Ökonom Olivier Blanchard schlug bereits im Jahr 2010 vier Prozent als Inflationsziel vor, aktuell hält der frühere Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds drei Prozent für angemessen. In der Tat gibt es gute Gründe für eine Erhöhung des Inflationsziels. Im Rahmen des vorliegenden anGEDACHTs diskutieren wir die wichtigsten Argumente in der Debatte und prognostizieren, inwiefern die Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Inflationsziele verändern werden. Außerdem erklären wir, warum bei einer Änderung des Inflationsziels das Timing entscheidend ist. Denn festzuhalten ist: Eine Notenbank, die in Zeiten erhöhter Teuerung ihr Inflationsziel nach oben anpasst, setzt ihre Glaubwürdigkeit auf Spiel – ihr wohl wichtigstes Kapital. 

Stärkerer Inflationsdruck in den kommenden Jahren 

Eine überschießende Inflation ist für sich genommen kein sinnvolles Argument für ein höheres Inflationsziel einer Notenbank – im Gegenteil. Denn der Eindruck könnte entstehen, dass die Notenbank ihr Ziel hochsetzt, weil sie daran scheitert, die niedrigere Marke zu erreichen – und das wäre ein fatales Signal an die Märkte. Gleichwohl wird eine Anpassung des Inflationsziels nach oben überhaupt erst sinnvoll durch einen höheren Inflationsdruck, weil die Notenbank ihr neues Ziel dann auch realistisch erreichen kann. In den vergangenen Jahren, als die Inflation strukturell bedingt extrem niedrig war, wäre eine Erhöhung auf drei oder vier Prozent sinnlos gewesen, weil die Notenbanken schon große Probleme hatten, das Ziel einer Inflationsrate von zwei Prozent zu erreichen. Diese Zeiten sind vorbei: Der Krieg in der Ukraine hat den Übergang in ein neues Wachstumsregime der Weltwirtschaft beschleunigt, die „Great Transformation“.2 Dieses Regime ist – unter anderem – durch einen strukturell bedingten, höheren Inflationsdruck gekennzeichnet. Dabei spielen eine Reihe von preistreibenden Faktoren eine Rolle. 

Inflationstreiber im Überblick​

Zeitraum von 2009 bis 2020 und mittelfristiger Ausblick​

Inflationstreiber im Überblick​
Quelle: Union Investment​

Im Jahr 2023 wird die Inflationsrate noch deutlich zu hoch liegen und sich erst 2024 langsam in Richtung der Zweiprozentmarke bewegen. In den USA erwarten wir im kommenden Jahr eine Teuerung von 2,5 Prozent, im Euroraum von 2,9 Prozent. Eine Rückkehr zu sehr niedriger Inflation halten wir in den nächsten Jahren für sehr unwahrscheinlich.

Notenbanken im Zielkonflikt 

Sind vor diesem Hintergrund die Inflationsziele von Fed und EZB noch zeitgemäß? Um uns einer Antwort zu nähern, betrachten wir den Status quo bei Fed und EZB und erklären, welche Überlegungen der Festlegung eines Inflationsziels zugrunde liegen. 

Die Fed verfolgt ein duales Mandat: Sie soll einerseits auf eine maximale nachhaltige Beschäftigung hinwirken, anderseits für Preisstabilität sorgen. Diese definiert sie als eine Teuerungsrate von „durchschnittlich“ zwei Prozent. Das bedeutet, dass die Fed zeitweise eine etwas höhere Inflation zulassen kann, wenn die Teuerungsrate sich zuvor zeitweise unter dieser Marke bewegt hat. Die EZB hat dagegen ein singuläres Mandat für Preisstabilität. Ihre Definition von Preisstabilität hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1999 zweimal verändert.3 Seit Juli 2021 gilt eine „symmetrische“ Zweiprozentmarke: Abweichungen vom Zielwert sind unerwünscht, negative ebenso wie positive. Zahlreiche Notenbanken von Industrieländern verfolgen – in der ein oder anderen Form – ein Inflationsziel von zwei Prozent. Warum ist das so? 

Diese Festlegung ist nicht zwingend, sondern stellt das Ergebnis einer Abwägung der Notenbanken dar, die sich in einem Zielkonflikt befinden. Je niedriger die Inflation ist, desto geringer sind auch die Informations- und Suchkosten: Für Unternehmen oder Verbraucher ist es einfacher zu erkennen, ob ein Preisanstieg die Folge einer gestiegenen Nachfrage oder eines gesunkenen Angebots ist, oder ob der Preis lediglich in einer Welle von Preisanstiegen angepasst wurde, weil beispielsweise Vorprodukte teurer geworden sind. Bei niedriger Inflation funktioniert also der Preismechanismus besser, der knappe Ressourcen der effizientesten Verwendung zuführt. Zudem sind dann die Kapitalkosten niedrig und Unternehmensinvestitionen steigen. Die Kaufkraft bleibt außerdem stabil, weil die Nominallöhne leichter mit der Teuerung Schritt halten können. Insbesondere die Empfänger fixer Einkommen – wie beispielsweise Rentner – profitieren von Preisstabilität. 

Auf der anderen Seite sorgt eine höhere Inflation für einen größeren Spielraum der Notenbanken, weil der Abstand zur effektiven Zinsuntergrenze höher ist. Denn höhere Inflationsraten gehen auch mit einem höheren Zinsniveau einher. Entscheidend bei diesem Argument ist das Konzept des „natürlichen Realzinses“4: Das ist das Niveau des Zinses, bei dem die Inflation stabil ist und die wirtschaftliche Leistung dem Produktionspotenzial entspricht. Der natürliche Zins kann nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden. Sein Niveau zuzüglich des Inflationsziels der Notenbank ergibt den „neutralen Notenbankzins“: Dieses Niveau des Leitzinses ermöglicht es, das Inflationsziel bei einer Vollauslastung der Wirtschaft zu erreichen. Das Problem besteht nun darin, dass der „natürliche Zins“ seit langem fällt5 und vermutlich in der vergangenen Dekade in den Bereich von null Prozent gesunken ist. Folglich sank auch der neutrale Notenbankzins – und dies wurde zum Problem, als die Volkswirtschaft deflationäre Tendenzen zeigte. Den Währungshütern fehlte der Spielraum für ausreichende geldpolitische Lockerungen, um stimulierend auf die Wirtschaft einzuwirken. Denn: Die Notenbank ist in ihrem Handeln durch die effektive Nullzinsgrenze beschränkt, sie kann den Leitzins also nicht beliebig senken – sonst wird Bargeld attraktiver.6 Wird die Nullzinsgrenze erreicht, kann die Notenbank eine Rezession also mit konventioneller Geldpolitik schlechter bekämpfen. Die Folge: Eine höhere Arbeitslosigkeit. 

Im Rahmen dieser Abwägung ließe sich ebenfalls ein Inflationsziel von ein bis zwei Prozent oder zwei bis drei Prozent rechtfertigen. Die Zweiprozentmarke stellt aber einen nachvollziehbaren Kompromiss dar. Und es war sinnvoll, dass die Notenbanken an diesem Ziel festgehalten haben, denn so konnten sie auch in herausfordernden Zeiten ihre Glaubwürdigkeit demonstrieren. 

Mehr Abstand zur effektiven Nullzinsgrenze 

Könnte die Zeit dennoch reif sein für eine Anhebung des Inflationsziels? Schließlich gibt es, bezogen auf die USA und Europa, auch spezifische Vorteile, die eine höhere Inflation mit sich bringen würde. In den USA verfolgt die Fed auch das Ziel einer maximalen nachhaltigen Beschäftigung, und eine leicht höhere Inflation kommt empirisch dem Arbeitsmarkt und den Löhnen zugute – die Volkwirtschaft brummt, ohne dass es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt. In Europa ist der strukturelle grüne Wandel politisch gewollt und angesichts des Klimawandels auch alternativlos. Auch wenn dieser etwas inflationstreibend wirkt, soll er nicht durch eine zu restriktive Geldpolitik behindert werden.

Das zentrale Argument von Blanchard und anderen Ökonomen ist aber ein anderes: Nämlich der größere Abstand zur effektiven Nullzinsgrenze.8 Blanchard verweist darauf, dass die Nullzinsgrenze in der vergangenen Dekade an Relevanz gewonnen hat. Deshalb seien die Zentralbanken auf leicht negative nominale Zinsen und Quantitative Easing ausgewichen – Instrumente, die aus der Sicht von Blanchard kompliziert in der Anwendung sowie nur begrenzt effektiv seien und negative Nebeneffekte (wie zum Beispiel stark steigende Vermögenspreise) mit sich gebracht hätten. Die Begleiterscheinungen einer höheren Inflation hält Blanchard für beherrschbar: Diese seien bei einer Teuerung von drei bis vier Prozent nur geringfügig höher als bei zwei Prozent und könnten durch Anpassungen weiter reduziert werden, etwa im Steuer- und Rentensystem. Zudem verweist er auf die Studienlage, dass sich Lohn- und Preisentscheidungen von Konsumenten erst aber einer Inflation von mehr als drei bis vier Prozent beginnen zu verändern und dass ab diesem Niveau die Unsicherheit über die künftige Teuerung steigt – dann besteht die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen „entankern“. 

Strategieüberprüfungen im Jahr 2025 

In Summe erscheint eine Anhebung des Inflationsziels auf drei Prozent durchaus sinnvoll. Aber werden Fed und EZB auch entsprechend handeln? Blanchard erwartet, dass die Debatte an Fahrt aufnimmt, wenn sich die Inflationsrate der Dreiprozentmarke nähert. Wir sind dagegen der Auffassung, dass es für die Glaubwürdigkeit der Notenbanken fatal wäre, ihre Inflationsziele zu ändern, bevor die Inflation in Richtung der Zweiprozentmarke gesunken ist. In den USA ist eine gewisse Flexibilisierung des Notenbankziels bereits Teil der letzten Strategieüberprüfung der Fed in den Jahren 2019 und 2020 gewesen. Insgesamt ist die Diskussion in den USA deutlich weiter als im Euroraum, wo eine Änderung des Inflationsziels zudem politisch schwieriger durchsetzbar erscheint. Bei Fed und EZB stehen für das Jahr 2025 neue Strategieüberprüfungen an. Wir halten es für wahrscheinlich, dass die Fed dann ihr Inflationsziel auf drei Prozent erhöht. Im Euroraum halten wir dies derzeit für wenig realistisch. Möglich erscheint aber eine „weichere“ Interpretation des Zweiprozentziels, die mehr Toleranz gegenüber einer zeitweise höheren Inflation zulassen könnte. 

  1. 1 “Powell says Fed will not change 2% inflation goal”, https://www.reuters.com/markets/us/powell-says-fed-will-not-change-2-inflation-goal-2022-12-14/, veröffentlicht am 14. Dezember 2022.
  2. 2 Die „Great Transformation“ und ihre Eigenschaften haben wir ausführlich in der Risikomanagement-Studie 2022 behandelt: „Das Ende der Stabilität: Investieren in einer volatileren Welt“. https://institutional.union-investment.de/dam/Institutional-NEU/kompetenzen/risikomanagement/risikomanagement-konferenzen/2022/UIN-2112339_Whitepaper_2022_kurz_DE_web_221031.pdf
  3. 3 Von 1999 bis 2003 verfolgte die EZB ein Inflationsziel von „unter 2 Prozent“. Danach und bis 2021 lautete das Ziel „unter, aber nahe 2 Prozent.“
  4. 4 Der „natürliche Zins“ geht auf den Ökonomen Knut Wicksell zurück, der ihn definierte als „jene Rate des Darlehenszinses, bei der der Gütermarkt im Gleichgewicht und das Preisniveau stabil ist“.
  5. 5 Für diese Entwicklung gibt es einige mögliche Erklärungen, z.B. eine gestiegene Spar- und eine verringerte Investitionsneigung, etwa durch die demographische Entwicklung.
  6. 6 Bargeld hat eine garantierte Verzinsung von null Prozent. In der Praxis verursacht Bargeldhaltung allerdings Kosten. Die effektive Nullzinsgrenze liegt also nicht zwingend bei null Prozent, je nach Ort und Zeit können negativ verzinste Wertanlagen trotzdem attraktiver sein als Bargeld.
  7. 7 Siehe auch: anGEDACHT von Juli 2022: „Greenflation – Treibt der Kampf gegen den Klimawandel die Preise?“ https://institutional.union-investment.de/startseite-de/themen-und-analysen/greenflation-kampf-gegen-klimawandel.html
  8. 8 Olivier Blanchard: “It is time to revisit the 2% inflation target”, erschienen am 28.11.2022. https://www.ft.com/content/02c8a9ac-b71d-4cef-a6ff-cac120d25588


Autoren:

Dr. Stefan Kipar​, Sandra Ebner & Christopher Krämer

 

Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen:
20. März 2023, soweit nicht anders angegeben.

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