Deutschland in der China-Zwickmühle
Die deutsche Wirtschaft steckt in der „China-Zwickmühle“ – und muss sich anpassen. Die Abhängigkeit vom Reich der Mitte ist hoch, als Lieferant von Vorleistungsgütern, Produktionsstätte und Absatzmarkt. Welche Sektoren stehen vor dem tiefgreifendsten Wandel? Welche Unternehmen könnten profitieren?
- Der Großmachtwettbewerb beschleunigt sich – und Deutschland sitzt zwischen den Stühlen
- Die Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft von China sind hoch, das Geschäftsmodell ist in Gefahr
- Abhilfe schaffen die Diversifikation von Lieferketten und Absatzmärkten sowie europäische Investitionen
Deutschlands Geschäftsmodell in Gefahr
„Russland ist der Sturm, China der Klimawandel“ – so beschrieb Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das Spannungsfeld der deutschen Sicherheitspolitik. Ebenso treffend sind seine Worte für die Situation der heimischen Wirtschaft. Denn natürlich ist die Substitution von günstiger Energie aus Russland eine enorme Herausforderung für die deutsche Industrie. Doch langfristig dürfte von China eine noch größere Gefahr ausgehen. Die Gründe dafür sind vielschichtig: So droht das Reich der Mitte für deutsche Unternehmen als Lieferant wichtiger Vorleistungsgüter und Endprodukte, günstiger Produktionsstandort und riesiger Absatzmarkt auszufallen, wenn die Gräben im Zuge des Großmachtwettbewerbs tiefer werden. Zudem werden chinesische Unternehmen nicht nur in der Heimat, sondern weltweit immer wettbewerbsfähiger – auch auf Absatzmärkten, die nicht zum engeren Kreis des „westlichen“ Blocks gehören. Die deutsche Konkurrenz verliert insgesamt Marktanteile. Welche Zukunft hat also das Geschäftsmodell Deutschlands in der „China-Zwickmühle“? Welche Sektoren stehen vor dem tiefgreifendsten Wandel? Und: Welche Unternehmen könnten profitieren?
Schon Corona- und Energiekrise haben gezeigt: Abhängigkeiten haben im Fall der Fälle extrem negative Konsequenzen. Das gilt grundsätzlich für alle Länder, doch für Deutschland ganz besonders. Denn die deutsche Wettbewerbsfähigkeit und damit der wirtschaftliche Erfolg basieren stärker als bei anderen auf freiem Welthandel, globalen Wertschöpfungsketten und der internationalen Arbeitsteilung. Die deutschen Exporte belaufen sich auf rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – für eine Volkswirtschaft dieser Größe ungewöhnlich viel. Gleiches gilt für die hohe Bedeutung der Industrieproduktion. Zu allem Überfluss ist Deutschland auch noch Energieimporteur.
Vor allem die vielfältigen Abhängigkeiten von China bekommen in einer Zeit, in der sich der Großmachtwettbewerb zwischen den USA und dem Reich der Mitte weiter beschleunigt, besondere Brisanz. Was wäre, wenn sich China weigerte, Handel mit Deutschland zu betreiben, etwa bei kritischen Rohstoffen? Bei Beryllium, Silizium, Kobalt und weiteren seltenen Erden etwa ist die Abhängigkeit vom Ausland besonders hoch – und China ein wichtiger Lieferant. Laut einer ifo-Umfrage sind 46 Prozent der deutschen Industrieunternehmen von Vorleistungsgütern aus China abhängig.
Doch auch von der Nachfrageseite droht Ungemach: Was wäre, wenn China keine deutschen Waren mehr importieren würde, oder deutsche Unternehmen immer weniger Produkte im Land verkaufen könnten? Volkswagen setzt rund 40 Prozent seiner Autos in China ab, knapp 15 Prozent der Erlöse von Siemens und BASF werden im Reich der Mitte erwirtschaftet.
Ein Risiko ist die gewachsene chinesische Konkurrenz. Denn bisher kam das Geld im deutschen Außenhandel vor allem aus den großen Industrien, wie dem Auto- und dem Maschinenbau. Genau in diesen Bereichen besitzt Deutschland auch (noch) einen komparativen Vorteil. Mehr als andere reiche Industrieländer war Deutschland bis zuletzt in der Lage, diese kapitalintensiven, aber eben auch margenträchtigen Industrien im Land zu halten. Die Gründe waren günstige Energie, der hohe (Aus-)Bildungsgrad im Ingenieurwesen, eine gewisse Lohnzurückhaltung und die Exportstärke.
Doch diese Position ist zunehmend in Gefahr. Beispiel Autos: 2021 wurden erstmals mehr Fahrzeuge aus China in die EU exportiert als umgekehrt. Dabei war die Anzahl chinesischer Fabrikate allerdings (noch) überschaubar. Treiber war vielmehr der Trend zur Elektromobilität. In Europa werden deutlich mehr Elektroautos nachgefragt als vor Ort produziert werden. Viele der benötigten Einheiten kommen aus dem Reich der Mitte – auch von deutschen Autobauern. 44 Prozent der global zwischen 2010 und 2020 gefertigten Elektroautos stammten von dort. Das ist für deutsche Hersteller und damit auch das deutsche Geschäftsmodell auf zwei Arten problematisch: Zum einen, weil Deutschland als bislang extrem wettbewerbsfähiges Zentrum für (margenstarke) Verbrennermotoren galt. Zum anderen, weil China bei der Verlagerung von Produktion in das Land die Bedingungen diktiert. Schaffen es die deutschen Autokonzerne also nicht, die Marktführerschaft auch bei Elektroantrieben zu übernehmen und gleichzeitig den Technologietransfer zu beschränken, könnten hier weltweit signifikante Marktanteile verlorengehen.
Beispiel Maschinenbau: Deutschlands „Hidden Champions“ aus dem Mittelstand konstruieren komplexe, kapitalintensive Maschinen. Chinas Industrialisierung gelang auch deshalb so schnell, weil Deutschland die Maschinen dafür geliefert hat. Die Bundesrepublik profitierte hingegen, weil sie dadurch ihr Exportvolumen hoch halten konnte. Doch jetzt wendet sich das Blatt: 2021 lagen die chinesischen Maschinenausfuhren erstmals über den deutschen. Auch die Wachstumsraten sprechen klar für China. Ist der „Lehrling“ also bereits besser als der „Meister“? Fakt ist: Noch sind die deutschen Maschinen zwar technologisch überlegen. Aber durch Chinas Aufholjagd in weniger fortschrittlichen Bereichen muss Deutschland immer mehr High Tech-Maschinen nach China liefern, um die Exporte in diese Richtung stabil zu halten. Ein Dilemma in Zeiten des Großmachtwettbewerbs, denn eigentlich sollen ja gerade diese teilweise sicherheitsrelevanten Güter zurückgehalten werden.
Zwischenfazit: Deutschlands Haltung gegenüber China muss sich nach jahrelangen Erfolgen ändern. Mehr Skepsis ist angebracht. Man hat sich einerseits in eine starke Abhängigkeit begeben, andererseits aber auch mächtige Wettbewerber geschaffen, die das Zeug haben, deutsche Unternehmen mittelfristig aus dem Markt zu drängen. Die deutsche Solar- und in Teilen auch Windkraftindustrie kann ein Lied davon singen. Was also muss sich ändern, damit das deutsche Geschäftsmodell im Großmachtwettbewerb bestehen kann? Denn klar ist auch: Die USA verzerren seit kurzem mit massiven Subventionen (Stichwort: Inflation Reduction Act) den Wettbewerb von der anderen Seite aus. In diesem Spannungsfeld muss Deutschland Lösungen finden.
(Noch) nicht alle denken um
Protektionistischen Tendenzen und handelsverzerrenden Praktiken entschiedenen entgegenzutreten, wird ein (allerdings wohl wenig erfolgversprechender) Weg auf der politischen Ebene sein. Für Deutschland und seine Unternehmen kann der Schlüssel deshalb nur heißen: Diversifikation bei Lieferketten und Absatzmärkten. So gilt es, die asiatischen Regionen außerhalb Chinas, aber auch Lateinamerika, Afrika und insbesondere den großen europäischen Binnenmarkt stärker in den Blick zunehmen.
Einige Konzerne machen dies bereits, teilweise auch aus der Not heraus. Laut einer ifo-Umfrage planen 45 Prozent der Unternehmen aus dem Verarbeitenden Gewerbe eine Verringerung ihrer Importe aus China. Das genannte Hauptmotiv: Diversifizierung der Lieferketten und Vermeidung von Abhängigkeiten. Besonders ausgeprägt ist der Wunsch in der chemischen Industrie (64 Prozent) und im Maschinenbau (rund 48 Prozent). Ein weiterer Grund könnte sein, dass US-Ratingagenturen auch das geopolitische Risiko in ihre Analyse zur Kreditwürdigkeit einbeziehen. Die Refinanzierung könnte für regional unzureichend diversifizierte Unternehmen also teuer werden. Gleiches gilt beim Thema Ausschreibungen: Die ersten deutschen Mittelständler beklagen, dass sie bei internationalen Ausschreibungen nicht mehr zum Zuge kommen, wenn sie sagen, dass sie bestimmte Teile ausschließlich aus China beziehen.
Bei einigen Schwergewichten hingegen ist von Rückzug keine Spur. Auch nach Abwägung aller Risiken scheinen hier die betriebswirtschaftlichen Chancen zu überwiegen. Das Institut der deutschen Wirtschaft nannte seine Analyse zum Thema „China-Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft: Mit Volldampf in die falsche Richtung“. Alleine im ersten Halbjahr 2022 investierten deutsche Unternehmen eine Rekordsumme von zehn Milliarden Euro in China. BASF plant den Bau einer neuer Großfabrik, die alleine rund zehn Milliarden Euro kosten wird. Siemens will erhebliche Kapazitäten im Bereich Forschung und Entwicklung im Reich der Mitte aufbauen, um die „lokalen Champions zu schlagen“, wie es Siemens-Chef Roland Busch formulierte. Und VW verkündete im Oktober, 2,4 Milliarden Euro in ein Joint Venture mit dem chinesischen Partner Horizon Robotics zu investieren, um das autonome Fahren voranzubringen.
Mit Vollgas in die falsche Richtung? Deutschlands Abhängigkeit von China weiterhin hoch
Anteil Chinas am deutschen Außenhandel mit Waren

Es verwundert deshalb nicht, dass in der ifo-Umfrage nur knapp 27 Prozent der Unternehmen aus der Automobilindustrie ihre Abhängigkeit von China reduzieren wollen. Der Druck in dieser Branche ist besonders hoch, denn eine starke Position auf dem großen chinesischen Markt ist auch wichtig für die globale Wettbewerbsfähigkeit. Die Sorge unter den Autoherstellern: Werden die chinesischen Rivalen gerade auch beim Thema E-Mobilität noch größer, könnten sie damit auch auf anderen Märkten fußfassen. Doch der Einsatz ist hoch. Verläuft die Blockbildung schneller als gedacht, verlören Investitionen in China rapide an Wert.
Subventionswettlauf ist in vollem Gange – und Europa hängt zurück
Die EU ist sich dieser Gefahren bewusst und will deshalb Anreize setzen, um Unternehmen zur Rückverlagerung von Produktion und zur Diversifikation von Absatzmärkten zu bewegen: Die Kommission plant, den Investitionsprogrammen aus den USA und China gerade beim Thema klimafreundliche Zukunftstechnologien eigene Maßnahmen entgegenzustellen. Kurzfristig sollen dazu bis zu 350 Milliarden Euro für grüne Investitionen zur Verfügung stehen, die teilweise aus anderen Fördertöpfen stammen. Es geht dabei auch um eine grundsätzliche Veränderung der Wirtschaftsstruktur: eine Stärkung der Binnennachfrage und eine Verringerung der Exportabhängigkeit. Klar ist: Nationale Alleingänge helfen nicht. Im Großmachtwettbewerb hat nur die EU als Ganzes eine Chance. Insbesondere bei grünen und sicherheitsrelevanten Technologien braucht es mehr Geld, mehr Industriepolitik und mehr Binnenmarkt. Im Detail: die Vollendung der Kapitalmarktunion, schnellere Genehmigungsverfahren, weniger Regulierung und eine Öffnung nationaler Grenzen, etwa für eine europaweite Netzinfrastruktur. Durch das richtige Umfeld könnten auch Zukunftstechnologien wie Wasserstoff und die Batterieproduktion für E-Autos verstärkt in Europa angesiedelt werden.
Gelänge dies, würden davon auch die angesprochenen Unternehmen und Branchen profitieren. Die Gewinner wären zum einen der Maschinenbau, da bei einer Reorganisation der Lieferketten Maschinen an neuen Standorten benötigt würden. Zum anderen könnten Konzerne aus den Sektoren Energie, Lebensmittel, Pharma, Verteidigung und Transport gut dastehen. Sie profitieren stark von öffentlichen Investitionen und Anreizen, ihre Produktion heimatnah auszubauen. Denn in diesen strategisch und sicherheitsrelevanten Bereichen sind Abhängigkeiten besonders schädlich.
Verlieren dürften jene Unternehmen, die zu stark und zu lange auf China setzen. Denn sie machen damit nicht nur die chinesischen Wettbewerber stärker – beispielsweise über Technologietransfers –, sondern sie riskieren auch, Aufträge etwa aus den USA zu verlieren, wenn sie weiter zu eng mit China zusammenarbeiten. Mehr Diversifikation, mehr Autarkie und mehr Re-, Near- und Friendshoring sind angeraten. Zwar wird auch die deutsche Politik die Beziehungen zu China nicht sofort und komplett kappen. Einfacher wird es für deutsche Unternehmen aber nicht. So verweigerte das Wirtschaftsministerium VW erstmals, einzelne Investitionsgarantien in China zu verlängern. Der Grund: die Unterdrückung der muslimischen Uiguren in Xinjiang. Außenministerin Baerbock brachte die Ambivalenz mit der Deutschland auf China blickt schließlich auf den Punkt: „China ist für uns Partner bei globalen Fragen, Wettbewerber im wirtschaftlichen Bereich, aber auch Systemrivale in Bezug auf unser Werteverständnis.“ Unternehmen müssen sich in diesem Spannungsfeld klar positionieren, wenn sie nicht abgehängt werden wollen.
Autoren:
Florian Hense, Janis Blaum
Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen:
14. Februar 2023, soweit nicht anders angegeben.